Ute Rott
Forsthaus Metzelthin
Kontrolle ist etwas, das jedes Lebenwesen braucht, um überleben zu können. Von klein auf lehren wir unsere Kinder viele Dinge genau zu kontrollieren, damit sie heil durchs Leben kommen Zum Beispiel ist es ganz klar, daß man nur über eine befahrene Straße geht, wenn dies gefahrlos möglich ist. Ebenso steckt man nicht einfach alles in den Mund, es könnte ja giftig sein. Messer und Scheren werden Kindern erst dann anvertraut, wenn die Eltern sicher sind, daß sie vernünftig damit umgehen und auch dann bleiben sie dabei und kontrollieren, daß nichts passiert. Auch Vorsicht gegenüber Fremden – in vernünftigem Ausmaß – sollen Kinder lernen und nicht mit jedem mitlaufen, der Gummibärchen dabei hat.
Menschen kontrollieren ihre Umgebung ständig, ohne sich dessen bewußt zu sein. Wenn wir in eine neue Umgebung kommen, bleiben wir erstmal stehen und werfen einen Blick in die Runde. Nur wenn wir sicher sind, daß alles ok ist, gehen wir weiter und betreten das Haus, den Raum, den Platz. Allein in eine fremde Stadt oder ein fremdes Land zu fahren, ist für uns nie besonders angenehm, besser wäre es, es ist jemand dabei, der sich auskennt. Einen guten Autofahrer macht aus, daß er regelmäßig in den Spiegeln den Verkehr überprüft, um so die Kontrolle zu behalten.
Warum ist das so? Sind wir alle Kontrollfanatiker, die dringend mal in Therapie müßten? Solange sich das in Grenzen hält wie oben beschrieben und es sich um einfache, größtenteils unbewußt ablaufende Aktionen handelt, ist es das sicher nicht mehr und nicht weniger als die notwendige, teilweise sogar überlebensnotwendige Überprüfung meiner Umwelt. Wer zu einer vernünftigen Kontrolle seiner Umwelt nicht in der Lage ist und viel zu sorglos durchs Leben wandert, muß schon ein großes Glückskind sein, um zu überleben, denn wer auf der Autobahn spazierengeht, jedem Menschen vertraut, der etwas von ihm will, Alkohol und Drogen in Unmengen konsumiert, ohne an die Folgen zu denken, der wird früher oder später durch seinen Leichtsinn geschädigt werden. Wir müssen also lernen, mit den Gefahren, die auf der Welt vorhanden sind, umzugehen und sie zu kontrollieren, dann kann man auch mal ein, zwei Glas Wein trinken, ohne gleich Leberzirrhose zu bekommen, man kann Straßen überqueren, ohne überfahren zu werden, und man lernt, Menschen richtig einzuschätzen. Alle Erfahrungen, die wir machen, egal ob gute oder schlechte, bereichern unser Leben und bringen uns vorwärts.
In ihrem sehr lesenswerten Buch „Wer denken will, muß fühlen.“ geht Elisabeth Beck auf das Grundbedürfnismodell von Epstein / Grawe ein. Die wichtigsten Grundbedürfnisse sind demnach
– Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
– Lustgewinn / Unlustvermeidung
– Bindungsbedürfnis
– Selbstwerterhöhung.
Der Psychologe Seymor Epstein hat sich Anfang der 1990er Jahre mit der Frage beschäftigt, ob es für Menschen auch psychische Grundbedürfnisse gibt, Klaus Grawe hat Anfang der 2000er Jahre in Anlehnung an diese Erkenntnisse die o.gen. Grundbedürfnisse als Modell entwickelt. Elisabeth Beck schreibt dazu (S. 78) : „Alle Grundlagen dieses Modells wurden jedoch an Tieren fast noch intensiver erforscht als an Menschen – höchste Zeit also, es auch zum Nutzen der Tiere einzusetzen“.
Um in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben, muß ein Lebewesen – egal ob Tier oder Mensch – eine gewisse Kontrolle behalten können. Denn gerade in schwierigen Momenten des Lebens kann es das Leben kosten, wenn man den Notausgang nicht kennt. Die Tatsache: „ich bin hier zwar fremd, aber ich habe mein Handy dabei und kann im Notfall meine Freunde anrufen, damit sie mich abholen“ reicht als Kontrolle in der Regel aus.
Wie verhält sich das jetzt mit Hunden? Oft genug hört man von Hunden, die ständig ihre Menschen kontrollieren, sie keinen Moment aus den Augen lassen, immer dabei sein müssen, niemanden an sie hinlassen, teilweise nicht mal den Partner oder die Kinder. Ist das normal? Sind diese Hunde krank? Warum machen das einige und andere nicht? Es lohnt sich, dem nachzugehen und dieses Problem zu untersuchen, da die Ursachen zum großen Teil darin begründet liegen, wie heutzutage Hunde „erzogen“ werden.
Hunde sind sehr neugierige Tiere, wie Menschen auch, nur wird ihnen das häufig negativ ausgelegt Ich nenne dieses Verhalten deshalb lieber „Erkundungsfreude“. Damit wird es positiv belegt und es trifft auch besser den Kern. Die meisten Hunde in meiner Hundeschule kommen freudig auf den Platz und müssen dringend erkunden, was seit dem letzten Mal hier passiert ist. Wer war da? Hat jemand Leckerchen vergessen? Steht das Plantschbecken rum? Und diese Erkundungsrunde macht Spaß. Hunde, die das nicht machen, sind immer Hunde, denen verboten wurde, von sich aus etwas zu erkunden. Sie machen einen verunsicherten Eindruck, wirken oft scheu und ängstlich, und haben nicht wirklich viel Spaß am Leben, keine Freude daran, etwas zu erkunden, keine Neugier, also keine „Gier auf Neues“.
Nehmen wir an, ein Mensch kommt mit seinem Hund in einen großen Raum, der beiden fremd ist. Der Mensch bleibt am Eingang stehen und wirft einen Blick in die Runde. Vielleicht sieht er jemanden, den er kennt und geht sofort zu ihm hin. Der Blick in die Runde hat ihm genügt, um sein Kontrollbedürfnis zu befriedigen. Der Bekannte ist obendrein ein „Beleg“ für die friedliche Situation, er kann also ohne weiteres hingehen und sich dazusetzen. Für den Hund sieht das ganz anders aus. Hunde erfassen zwar ebenso wie wir neue Situationen und Umgebungen mit allen Sinnen, den gründlichsten Aufschluss geben ihnen aber nicht die Augen sondern die Nase. Und deshalb reicht es ihnen nicht, wenn sie sich umsehen. Sie müssen den Raum mit der Nase erkunden. Üblicherweise ist das aber nicht erlaubt, denn aus welchem Grund auch immer denken Menschen nicht freundlich über Hundenasen, die auf Erkundung sind. Könnte es nicht sein, der Hund pinkelt irgendwo hin, wenn er was interessantes riecht? Könnte es nicht sein, er belästigt jemanden? Oder jemand fürchtet sich vor Hunden. Und überhaupt sind die meisten Menschen der Meinung, es reicht, wenn der Mensch weiß, was er tut, der Hund hat ihm blind zu vertrauen.
Ach, wirklich? Als sozial hochentwickelte Landraubtiere haben Hunde wie Menschen ein sehr starkes Bedürfnis, ihre Umgebung daraufhin zu kontrollieren, ob sie ungefährlich ist, Beute oder Feinde verbirgt, man sich hier wohlfühlen kann oder sich lieber entfernt, sie haben also das gleiche Streben nach Lustgewinn, bzw. Unlustvermeidung wie Menschen. Wie kann aber ein Mensch, der sich mit seinem Hauptsinn „Sehvermögen“ überwiegend orientiert und zum Teil ganz andere Bedürfnisse und Vorstellungen von einem angenehmen Leben hat wie ein Hund, verlangen, daß sein Hund ihm immer und unter allen Umständen vertraut, wenn er ihm nicht mal ein wichtiges Bedürfnis, nämlich das nach Orientierung und Kontrolle zugesteht? Der Mensch in unserem Beispiel vertraut seinem Hund in keinster Weise, sonst käme er ja nicht auf die Idee, sein Hund könnte rumpinkeln, andere belästigen oder in Angst versetzen.
Viele Hundebesitzer und Hundetrainer glauben, daß sie sehr wohl in der Lage sind, hundliche Bedürfnisse richtig einzuschätzen und diesen auch gerecht zu werden. Das stimmt in vielen Fällen sogar, aber spätestens bei folgenden Fragen hört es für die meisten auf: darf ein Hund sich paaren und wenn ja mit wem? Wann und wie oft bekommt er was zu fressen? Darf er einfach so durch die Gegend laufen, und das auch noch wann und so lange es ihm gefällt? Darf Hund sich in Aas oder Exkrementen wälzen und dann im Wohnzimmer auf die Couch hopsen, um ein Nickerchen zu nehmen? Es gäbe noch viele andere Punkte, bei denen sich Mensch und Hund nicht unbedingt einig sind, aber Menschen bestehen darauf, alles so zu machen und zu kontrollieren (!), daß es ihren Vorstellungen gerecht wird.
Damit hier keine Missverständnisse entstehen: ich bin durchaus der Meinung, daß Hunde zwar soviel Freilauf wie möglich haben sollten, aber auch hier in der uckermärkischen Einsamkeit öffnen wir nicht einfach die Tür und schicken die Hunde hinaus. Ebenso gibt es ein von den Hunden durchaus unerwünschtes Duschbad, falls sie sich mal wieder mit Waschbärkacke parfümiert haben. Aber wenn unsere Hunde der Meinung sind, daß wir nicht umkehren, bevor wir den See erreicht haben, weil es nämlich wieder mal hoch an der Zeit für ein schönes Bad ist, dann lassen wir uns schon mal überreden. Und wer kontrolliert dann wen? Ich ganz sicher nicht meine Hunde. Dafür komme ich zu einem nicht eingeplanten Bad und die Hunde hatten mit ihrer Entscheidung natürlich recht.
Wer seinen Hund allerdings dazu erzieht immer und unter allen Umständen die Kontrolle abzugeben und alle Entscheidungen seinem Menschen zu überlassen, der muß mit üblen Folgen rechnen. Eine dieser Folgen kann Trennungsangst sein. Denn wer nie für sich selber sorgen und entscheiden darf, gerät natürlich leicht in Panik, wenn die Person verschwindet, die das für ihn erledigt. Und ist es nicht nachvollziehbar und logisch, daß ich permanent aufpassen muß, daß mir dieser Mensch ja nicht aus den Augen kommt? Was tue ich, wenn er weg ist? Wer passt dann auf mich auf? Wer trifft dann die Entscheidungen für mich? Wer kümmert sich, wenn ich in Gefahr bin? Ein Hund, der nichts entscheiden darf, der nie selber etwas erkunden darf, der aus Erkundungen nichts lernen kann, dem alles abgenommen wird, der immer und überall – in der Regel durch Kommandos – unselbständig sein muß, wird dann ausschließlich und immer das kontrollieren, was ihm noch bleibt: den Menschen, der ihm die Kontrolle über seine Umwelt abgenommen hat.
Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen ihren Hunden so etwas antun. Einer ist sicher übertriebene Fürsorglichkeit. Der Hund einer Bekannten durfte sich nicht mal selber kratzen: „das macht Frauchen doch für dich“. Ja, und was ist, wenn sie nicht da ist? Ein anderer ist ein übertriebenes menschliches Kontrollbedürfnis, das leider durch viele Trainer auch noch gefüttert wird: „wenn du deinen Hund nicht immer im Griff hast (sprich 100%ige Kontrolle), dann….“ und es folgen die schlimmsten Szenarien von gebissenen Kindern, über Hundebeissereien, angeblichen Rangordnungsproblemen bis zu durch den Hund verursachten Autounfällen und was dergleichen Unfug mehr ist. Wenn von Hunden so eine permanente Gefahr ausginge, die man nur durch 100% Kontrolle in den Griff kriegen kann, dann sollte man sich schon fragen, wie das eigentlich seit Tausenden von Jahren mit Hunden und Menschen gut gehen kann. Glaubt irgendjemand ernsthaft, daß 100%ige Kontrolle eines anderen Lebewesens tatsächlich möglich ist? Wir sind ja kaum in der Lage unsere Computer und andere Technik, also von uns selbst erzeugte und programmierte Gegenstände zu kontrollieren. Wie soll das dann bei einem denkenden und fühlenden, intelligenten Lebewesen möglich sein? Und weil wir das wissen, fangen Menschen an, die Hunde unglaublich unter Druck zu setzen, damit der gar nicht erst auf die Idee kommt, eigene Gedanken und Ideen zu entwickeln. So muß der Hund beispielsweise immer und permanent „Platz“ machen, wenn man irgendwo im Restaurant sitzt. Wehe, er steht auf, dann geht sofort die Welt unter. Oder er muß beim Spaziergang immer an der Leine laufen und da natürlich „bei Fuß“. Nur ab und zu wird ihm erlaubt, zu schnüffeln, zu pinkeln oder zu kacken. Der Hund ist also vollkommen dem Willen und den Entscheidungen seines Menschen ausgeliefert und bewegt sich nur noch als Marionette durchs Leben.
Zum Abschluss eine hoffentlich abschreckende Anekdote: Ich hatte auf einer Hundeveranstaltung in Berlin einen Stand und verkaufte dort auch Zubehör, unter anderem Holzspielzeug. Mutter und Tochter mit einer sehr netten, aber auch sehr schüchternen Staffhündin kamen vorbei und interessierten sich dafür. Für solche Fälle habe ich immer meine eigenen Spielsachen dabei, damit man das einfach mal testen kann. Die Hündin ging – große Überraschung – voller Interesse mit der Nase hin, sie wurde aber sofort am Halsband mit einem sicher schmerzhaften Ruck zurückgezogen mit der unfreundlichen Bemerkung „pass auf!“ Ja, was hatte sie wohl gerade gemacht? Sie setzte sich steif und starr hin, sah nur noch gerade aus und man konnte regelrecht sehen, wie sie dachte: nur nix falsch machen und durchhalten, alles geht vorüber. Glauben Sie ernsthaft, daß die beiden Frauen und ihre Hündin an dem Spielzeug Spaß hatten? Daß sie ihrem netten, verschüchterten Mädchen begreiflich machen konnten, daß das hier „Spiel und Spaß“ bedeutet? Wohl kaum.
In diesem Sinne: Wenn ich meinen Hund Hund sein lassen möchte, bedeutet das auch, daß ich ihm sein Bedürfnis nach Kontrolle zugestehe. Egal ob es sich um Holzspielzeug oder die Hinterlassenschaft des Nachbarhundes handelt, Hunde kontrollieren bevorzugt mit der Nase und darin sind sie uns gnadenlos überlegen. Kontrolle behalten heißt auch, daß mein Hund mal sagt: das mach ich nicht. Und ganz ehrlich: meistens haben die Hunde mit solchen Entscheidungen Recht.
3 Kommentare zu Führt Kontrollverlust bei Hunden zu Kontrollzwang?