…. das war eine Frau mit Kinderwagen.
Ich bin mit einer Kundin unterwegs, habe ihren Hund an der Leine, um der Kundin zu zeigen, wie wir mit ihrem netten und sehr sozialen Rüden für ihn schwierige Situationen meistern. Dabei geht es vor allem darum, dass wir ihm in aller Ruhe und mit viel Zeit und Geduld erklären, wie wir die Situation einschätzen. Er ist ein sehr aufmerksamer und kluger Hund, seit einem knappen halben Jahr in Deutschland, ca. 3 Jahre alt. Wir wollen ihn der Einfachheit halber Bello nennen.
Es geht alles sehr gut, wir überqueren eine viel befahrene Straße, passieren einen bellenden Hund hinterm Zaun in für Bello guter Entfernung, bewältigen die Versuchung, die ein Loch im Zaun darstellt, durch das er sehr gerne auf Erkundung gehen würde, alles ist im grünen Bereich. Von vorne kommt eine junge Frau mit Kinderwagen. Mütter mit kleinen Kindern, besonders mit Babys im Kinderwagen sind ein eigenes Thema. Die legen in der Regel keinen gesteigerten Wert auf Hundenasen im Kinderwagen und das haben wir zu respektieren. Da Bello sehr freundlich und neugierig ist, bitte ich ihn auf die abgewandte Seite zu gehen, das macht er vorbildlich mit. Die junge Frau trägt ein Kopftuch, sie ist vermutlich Muslima. Da macht die Situation noch etwas brisanter, da ich annehmen muss, dass sie aufgrund ihres Glaubens Hunde nicht so toll findet, also haben wir gleich zwei Gründe besonders rücksichtsvoll zu sein. Ich bin überzeugt, dass Bello mich versteht, denn er geht sehr lieb und aufmerksam neben mir vorbei, ich sage ihm, dass er großartig ist und bedanke mich sehr mit vielen guten Worten und vielen Leckerchen für seine Kooperation.
Als wir vorbei sind, bleibt Bello stehen, dreht sich um und sieht der Frau und dem Kinderwagen hinterher. Meine Kundin wird sofort total nervös und versucht ihn mit „Bello, wir gehen hier weiter“ aus der Situation zu holen. Ziemlich irritiert frage ich sie, was das soll.
Die Antwort irritiert mich noch mehr als die Aktion selber: „ja, aber wenn da eine Katze läuft, dann muss ich ihn doch abrufen können.“
Erstmal tief Luft holen, bis zehn zählen, dann antworten. Bello kuckt in der Zwischenzeit sehr ruhig und gelassen immer noch nach der Frau, die sich ebenfalls ruhig und entspannt entfernt.
„Das war keine Katze, das war eine Frau mit Kinderwagen.“
„Ja, aber wenn da eine Katze…“
„Das war keine Katze, das war eine Frau mit Kinderwagen.“
„Ja, aber….“
„Das war keine Katze, das war eine Frau mit Kinderwagen. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum er da nicht hinschauen darf.“
Im weiteren Gespräch klären wir, dass vorbeihuschende Katzen, die ihn ganz sicher zum Hinterherrennen animieren, etwas ganz anderes sind als Frauen, die schlicht ihren Kinderwagen unbelästigt an uns vorbeischieben möchten, und die er so interessant findet, dass er einfach ein bisschen hinterher kucken möchte. Das eine hat mit dem anderen soviel zu tun, wie Autoverkehr mit Gartenanlagen.
Aber das Thema ist für mich nicht durch nach diesem Termin, im Gegenteil. Denn das ist eine Situation, die ich sehr oft erlebe. Und ich bin mir sicher, dass viele meiner KollegInnen das ebenfalls oft in ihren Trainingsstunden haben: es wird einfach in jeder Situation die passende Interpretation gesucht und dann eine vermeintlich gute Lösung drübergestülpt. Es ist aber ein gewaltiger Unterschied, ob ein Hund hinter was auch immer herrennen oder es einfach ruhig beobachten möchte. Vielleicht kann ich ihn ja dazu überreden, sofort mit mir mitzukommen, weil die Frau mit dem Kinderwagen doch nicht so interessant ist. Vielleicht mache ich sie durch den Druck, den ich automatisch ausübe, aber auch unglaublich wichtig und spannend. Dann könnte es durchaus sein, dass er bei der nächsten ähnlichen Begegnung eben nicht mehr locker vorbeigeht, sondern dringend untersuchen muss, was denn so Besonderes mit diesem Kinderwagen ist, wenn ich solche Probleme damit habe. Denn wenn ich keine Probleme damit hätte, könnte er sich das Ding doch wirklich in Ruhe aus der Ferne betrachten. Oder?
Und dann ist es mehr als fraglich, dass ich ihn, selbst wenn Frauen mit Kinderwagen grundsätzlich so uninteressant sind, dass er sich immer davon abrufen läßt, sich auch von einer Katze, die mal eben fünf Meter vor ihm aus dem Gebüsch hopst, ebenfalls abrufen kann. Frauen mit Kinderwagen – oder ähnliche Objekte – gehören nicht ins Beuteschema unserer Hunde, Katzen schon. Hunde wissen das, Menschen offenbar nicht.
Ich vermute, es gibt zwei Hauptgründe, warum Menschen so reagieren und Frauen mit Kinderwagen mit Katzen gleichsetzen.
Der eine Grund ist: mein Hund muss sich immer und überall von allem sofort abrufen lassen und unverzüglich mit mir weitergehen, wenn ich das möchte.
Klare Anwort: nein, muss er nicht. Ganz im Gegenteil. Hunde lernen am besten, dass eine Situation unkompliziert und ganz normaler Alltag ist, wenn wir sie ruhig heranführen, ihnen Ausweichmöglichkeiten anbieten, z.B. auf die Seite gehen und abwarten oder an meiner Seite ruhig vorbeigehen, und wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, in ihrem eigenen Tempo zu überprüfen, ob meine Sicht der Dinge (Frauen mit Kinderwagen sind uninteressant) auch stimmt. Und dazu muss ein Hund einfach mal hinterherkucken dürfen.
Der zweite Grund ist: viele Trainingsansätze laufen darauf hinaus, dass man ständig und überall Signale einüben muss, indem man die Ablenkung langsam steigert, so dass sich Bello irgendwann nicht nur von Frauen mit Kinderwagen sondern auch vor davoneilenden Katzen abrufen läßt.
Dazu kann ich nur sagen: träumt weiter. Gerade Hunde aus dem Auslandstierschutz sehen häufig Katzen als willkommende Abwechslung auf dem Speiseplan. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe bei meiner Indiana einige Jahre gebraucht, bis sie davon überzeugen konnte, beim Anblick von Katzen, die mindestens 20 Meter weg sind, ruhig zu bleiben. Wenn eine Katze unmittelbar vor uns auftauchen sollte, hoffe ich schlicht und ergreifend, dass ich die Leine fest genug in der Hand habe und richtig reagiere. Und Indiana ist mittlerweile 8 Jahre alt und seit 7,5 Jahren bei uns.
Wir sind nicht ständig immer und überall im Abruftraining für einen 100%ig sicheren Rückruf, den es so überhaupt nicht gibt, ausser ich mache meinen Hund zu einer willenlosen Marionette. Wenn wir Katzen treffen, freue ich mir ein Loch in den Bauch, weil mir die Hunde diese tolle Katze gezeigt haben und bedanke mich mit vielen, vielen Keksen für die großartige Nachricht. Frauen mit Kinderwagen gehen meinen Hunden dagegen am Allerwertesten vorbei. Sie sind uns nicht mal einen Kommentar wert.
Vielleicht gibt es auch noch einen dritten Grund, warum Menschen so widersinnig reagieren: sie wollen die Kontrolle behalten, immer und unter allen Umständen. Und spätestens jetzt wirds richtig schwierig. Denn unsere Hunde werden ja irgendwann erwachsen oder sie kommen schon erwachsen zu uns. Erwachsen sein bedeutet aber unter anderem, dass man selber die Kontrolle über sein Leben hat und nicht ständig und überall gegängelt und rumkommandiert wird. Das bedeutet auch, dass ein Hund eigene Entscheidungen trifft, die vielleicht nicht immer ganz in unserem Sinn sind. So wie meine Indiana Katzen eben killen und fressen würde, wenn ich nicht aufpassen würde. Allein die Tatsache, dass sie nicht mehr auf jede Katze in egel welcher Entfernung mit Mordgelüste reagiert, finde ich ein unglaubliches Zeichen von Kooperationsbereitschaft und Verständnis ihrerseits. Mit absurdem Abruftraining wären wir niemals dahin gekommen.
Wenn man also einen Hund hat, der mit meiner Lebenssituation noch nicht vertraut ist, dann ist der wichtigste Punkt bei allem, was wir unternehmen, dass ich ihm in aller Ruhe zeige, wie ich mit für ihn neuen, unbekannten und vielleicht auch schwierigen Situationen umgehe, und ihm genügend Gelegenheit gebe, sich davon zu überzeugen, dass das jetzt einfach eine normale Alltagssituation ist.
Denn das war jetzt ein Frau mit Kinderwagen, das war keine Katze.