Es gibt Bücher, die sind wegweisend – auch wenn nicht jeder das vielleicht so sieht. Eines war „Calming Signals“ von Turid Rugaas. Seit dieses Buch seinen Weg in die Hundeszene gefunden hat, hat sich enorm viel verändert im Umgang mit Hunden. Hunde wirklich zu verstehen und ihre Sprache lesen zu können, wurde mit diesem Buch einfacher.
Genau so wird es mit dem neuen Buch von Ulli Reichmann sein. Sie hat bereits mit ihren revolutionären Ideen über das Leben mit jagdbegeisterten Hunden nicht nur das „Anti“jagdtraining auf den Kopf gestellt. Auch mit ihren völlig neuen Ideen, wie man mit Hunden im Alltag leben oder wie man Welpen aufziehen sollte, kamen Grundfesten der vermeintlich einzig richtigen Vorstellungen von Hunde“erziehung“ ins Wanken – und von diesen Vorstellungen gibt es wahrlich viele.
Müssen Hunde erzogen werden? Und was ist darunter zu verstehen? Kommen wir mit Hunden nur klar, wenn sie die Grundkommandos „hier, sitz, platz, Fuß, bleib“ auch im Schlaf beherrschen, so dass sie jederzeit zuverlässig abrufbar sind, und zwar egal ob gerade die Welt untergeht, auf dem Autobahnmittelstreifen oder im Kindergarten? Und warum kommen wir überhaupt auf die Idee, Hunde kommandieren zu müssen?
So wie ich hatten viele HundetrainerInnen schon Hunde oder lebten mit ihnen in ihren Familien, bevor sie diesen Beruf ergriffen. Und die wenigsten dieser Hunde beherrschten auch nur einziges dieser angeblich überlebenswichtigen Kommandos. Ganz im Gegenteil. Mit den armen Opfern der Hundevereine hatte man einfach nur Mitleid. So einen Hund, der nur demütig neben oder hinter einem herschleicht, wollte niemand haben. Und wenn so ein Hund auf einen kam, empfand man jede selbständige Tat des Hundes wie schnüffeln oder Streicheleinheiten einfordern als großen Erfolg, dazu brauchte man keinen Hundeflüsterer.
Und heute? Die Köpfe vieler HundetrainerInnen und HundehalterInnen rauchen nur so vor Anstrengung, um Hunden genau das beizubringen: achte nur auf deinen Menschen, orientiere dich an nichts anderem. Wie lange darf ein Hund wo schnüffeln? Darf er überhaupt mal an einer Wildspur schnuppern? Geschweige denn ein Reh beobachten? Ab wann ist er zu selbständig? Stimmt seine Bindung zu mir…….
Fragen über Fragen plagen uns, NachbarInnen, FreundInnen, KollegInnen, jeder der auch nur mal die ersten 3 Minuten eine dieser begnadeten Hundeflüstersendungen gesehen hat, weiß genauestens Bescheid und überschüttet HundehalterInnen mit hochqualifizieren Ratschlägen. Ja, das sind wahrlich üble Schläge, die auf Hund und Mensch da oft hereinprasseln.
Und jetzt kommt dieses Buch daher mit diesem provokativen Titel: Perfekt unerzogen!
Ja, geht’s noch? Einen Hund nicht (!!!) erziehen? Und das soll dann auch noch perfekt sein?
Das werden sich bestimmt viele fragen, aber die Antwort ist ganz einfach: ja, genau das ist der Weg, den wir einschlagen sollen. Denn auch wenn wir noch so lieb und freundlich unseren Hunden alles mögliche beibringen, mit viel Lob und Leckerchen und liebvoll aufgebauten Markern und Signalen….. wir stülpen Hunden trotzdem immer unsere Vorstellungen vom perfekten Hund über und beachten nicht wirklich, was der Hund möchte und wer er eigentlich ist. Denn wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir über alles und jedes in unserem Leben die Kontrolle behalten müssen, eben auch über unseren Hund, dass wir uns noch so oft Sätze wie: „Hunde sind eigenständige Lebenwesen und Persönlichkeiten“ oder „Hunde sind keine Waschmaschinen“ vorsagen können, wenn Kollege XY oder Nachbarin YZ meint, wir hätten unseren Hund nicht im Griff, verfallen wir sofort in den Trainingswahn.
Wer sich damit nicht wohlfühlt und sich Gedanken darüber macht, wie man aus dieser Falle heraus und in ein gutes Leben mit seinem Hund hineinkommt, sollte unbedingt Ulli Reichmanns neues Buch lesen. Es ist ganz sicher keine Gebrauchsanleitung, wie man „ullimäßig“ seinen Hund optimal erzieht, denn – wir erinnern uns – Hunde sind wirklich keine Waschmaschinen. Sie sind Individuen und großartige Persönlichkeiten mit eigenen Vorstellungen von einem guten Leben. Und ihr könnt das wirklich glauben: das sind Vorstellungen, die von unseren gar nicht so weit entfernt sind, ganz im Gegenteil.