Frau Maier ist eine zierliche, kleine Dame von ca. 45 Jahren. Sie höchstens 1,60 Meter groß und wiegt ca. 55 Kilogramm. Entsprechend hat sie zarte Gliedmaßen und kleine, schmale Hände. Als sie zu Besuch bei einer Freundin war, verliebte sie sich in einen Leonbergerwelpen. Die Hündin der Freundin hatte gerade Welpen. Frau Maier ist eine sehr emotionale Frau, sie wollte schon immer einen Hund und dieses kuschelige Fellbündel hatte es ihr einfach angetan. So ganz blauäuig wollte sie aber nicht Hundebesitzerin werden, also besorgte sie sich erstmal ein paar Hundebücher, z.B. über die Rasse oder was eben so als gute Erziehungsbücher angeboten wird und recherchierte im Internet. Nachdem sie immer wieder gelesen hatte – und ihre Freundin hatte das ja auch gesagt -, daß Leonberger großartige Familienhunde und sehr leicht zu erziehen sind, und sie außerdem mit ihrer Familie auf einem recht einsam gelegenen Gehöft in Brandenburg lebt, wo ein großer Hund auch von Vorteil sein kann, holte sie kurzentschlossen den kleinen Kerl ab. Sie nannte ihn Pedro.
Die ersten Tage waren relativ unkompliziert. Aber so ganz allmählich stellte sich heraus, daß Pedro keine Ahnung davon hatte, daß er leicht zu erziehen war. Er wollte nicht spazierengehen, also zog sie ihn an der Leine weiter. Da sie ihm ein abwechslungsreiches und interessantes Leben bieten wollte, spielte die ganze Familie sehr viel mit ihm, Ballwerfen, mit dem Zottel zerren, kämpfen…. es ging richtig rund. Weil Pedro ja mal sehr groß werden sollte und außerdem ein Rüde war, durfte er nicht ins Haus, sondern bekam einen wunderbaren Zwinger mit einer sehr schönen, gemütlichen Hundehütte und schlief von Anfang an draußen. Da er nachts nicht Zeter und Mordio schrie, war die ganze Familie der Meinung, das sei gut so.
Komischerweise enwickelte sich Pedro zu einem regelrechten Zombie. Man hatte ihm ein Brustgeschirr besorgt, das wollte er sich nicht umlegen lassen. Bei den Spaziergängen biss er ständig in die Leine und attackierte auch irgendwann den Leinenhalter – oft genug die zarte Frau Maier. Das Spielen war offenbar nicht reichhaltig genug, denn schon nach ca. 20 Minuten wurde er immer wilder und verbiss sich nicht nur im angebotenen Zottel sondern auch in Frau Maiers kleine Hände. Das mit der gemütlichen Hundhütte und dem tollen Zwinger war wohl auch nicht so das Wahre, da man ihn immer hinein locken mußte und er bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder rausrannte. Wenn man ihn früh aus dem Zwinger holte, war eine seiner ersten Aktionen: irgendwo reinbeißen, z.B. in Frau Maiers Beine.
Da sie sowieso zum Tierarzt mußte, fragte sie ihn um Rat. Der mußte nicht lange überlegen, sondern diagnostizierte haarscharf, daß es sich hier wohl um einen eher dominanten Rüden handelt. Nur zur Erinnerung: Pedro war mittlerweile 14 Wochen alt. Die Lösung des Problems wurde auch gleich serviert: Alphawurf. So richtig gut fand Frau Maier das nicht, aber Pedro war ihr erster Hund, der Tierarzt der Spezialist und wenn er das sagte, würde es wohl stimmen. Etwas betrübt fuhr sie nach Hause. Solche rabiaten Methoden lagen ihr überhaupt nicht und das Zusammenleben mit einem Hund hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Sie versuchte es noch ca. eine Woche mit Ganz-besonders-lieb-sein und viel spielen, aber Pedros Attacken wurde immer schlimmer. Also wagte sie es doch einmal und versuchte sich am Alphawurf.
Man stelle sich bitte folgende Szene vor: ein junger und gesunder Leonberger von 15 Wochen, Gewicht ca. 20 Kilo, und eine zarte, eher zurückhaltende Frau, die versucht, dieses Kraftpaket auf den Rücken zu werfen und an der Kehle zu fixieren. Wenn Sie jetzt vermuten, daß das schief ging, haben Sie recht. Pedro wehrte sich nach Leibeskräften, Frau Maier versuchte verzweifelt ihm klar zu machen, daß sie hier der Boss sei. Überzeugen konnte sie ihn nicht. Wie ihre Hände und Beine, ihre Hosen und Jackenärmel hinterher aussahen, kann man sich gut vorstellen.
Und dann kam Frau Maier mit Pedro zu mir.
Ich möchte jetzt nicht näher drauf eingehen, daß der sog. Alphawurf ein Hirngespinst von Leuten ist, die sich einfach nicht vorstellen können, daß man einen Hund auch mit freundlichen Methoden gut erziehen kann. Ebenso will ich nur mal Rande erwähnen, daß es diesen Alphawurf nach wie vor nur in der Phantasie von Dominanzaposteln gibt. Es existiert kein noch so winziger Hinweis darauf, daß es diese Handlung unter Caniden gibt: der „Ranghöhere“ schmeißt den „Rangniederen“ gewaltsam um, packt ihn an der Kehle und hält ihn dort fest. Falls die beiden weiterhin friedlich zusammenleben möchten, werden sie den Teufel tun und sich dermaßen bedrohlich verhalten. Auch die gesundheitlichen Folgen eines gewaltsamen und unerwarteten Auf-den-Rücken-Werfens, z.B. Schäden an der Wirbelsäule, lassen wir mal beiseite. Das alles sei nur am Rande und der Vollständigkeit halber erwähnt.
Nein, ich möchte hier vor allem darauf eingehen, wie praxisnah dieser heiße Tipp doch war. Auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: eine kleine, zarte Frau soll einen Leonbergerrüden, der ausgewachsen auf irgendwas um die 70 Kilogramm kommt, zur Raison bringen, indem sie ihn gewaltsam auf dem Rücken wirft und dort fixiert. Frau Maier hat niemals Kampfsport betrieben, das liegt ihr auch weiterhin vollkommen fern. Sie ist eine kleine, zarte Frau, die nicht mit übermäßigen körperlichen Kräften gesegnet ist, und trotzdem gibt ihr der Tierarzt einen Rat, der aus rein physikalischen Gründen schlicht und ergreifend undurchführbar ist. Also nur mal so nebenbei: als Tierarzt hat man ja das Abitur machen müssen und dazu hat man irgendwas von Mechanik, Hebelgesetze und so, gehört. Und wie man das anwendet. Wenn man diese sonderbare Aktion also unter rein physikalischen Gesichtspunkten betrachtet, dann ist dieser heiße Tipp ähnlich einzuordnen, als würde der Automechaniker Frau Maier bitten, doch mal kurz ihr Auto aufzuheben, damit er drunter schauen kann!
Und jetzt wollen wir uns mal die deutlich schwerwiegenderen Folgen ansehen, die eine solche Tat in den Köpfen von Frau Maier und Pedro anrichtet. Frau Maier weiß von Anfang an, daß sie diese Schlacht verliert. Pedro merkt das und lernt blitzschnell, daß sein Frauchen unberechenbar ist und schreckliche Dinge mit ihm macht, ihm Schmerzen bereitet und ihn an Leib und Leben bedroht. Aber wenn er sich nur genug wehrt, dann bleibt er erster Sieger. Und ebenso wird er schnell lernen, daß er nur ein bißchen knurren oder die Nase rümpfen muß, um Frau Maier zukünftig davon abzuhalten, ihn unfreundlich zu behandeln. Da er außerdem durch die extremen Spiele und „Zerr“spaziergänge schon gelernt hat, daß seine freundlichen Signale („es reicht mir jetzt, könnt ihr bitte mal aufhören?“) ignoriert werden und nur Beißen Erleichterung bringt, sollte der Weg bis zum ersten ernsthaften Zubeißen recht kurz werden. Und wer kriegt dann Schuld, wenn Frau Maier im Krankenhaus landet? Der Tierarzt? Oder nicht doch eher dieser gänzlich unberechenbare Hund, der ja so schrecklich dominant ist, daß nicht mal der Alphawurf was fruchtet?
Lange Rede, kurzer Sinn: wer so dermaßen qualifizierte Ratschläge erteilt, sollte sie doch bitte am lebenden Objekt vorführen, und zwar nicht an einem Welpen, sondern z.B. an einem ausgewachsenen Rottweilerrüden. Wenn er dann im Krankenhaus landet, bekommt er die gerechte Strafe für seine Dummheit und nicht die anderen müssen darunter leiden. Die, die solche Ratschläge annehmen, sollten mehr auf ihr Gefühl hören und bedenken, daß im Wort „Ratschlag“ auch das Wort „schlagen“ steckt. Ja, man kann andere mit Rat schlagen. Besser also, man nimmt nicht jeden Rat an.
Die Geschichte mit Frau Maier und Pedro ist gut ausgegangen. Pedro ist jetzt ein dreiviertel Jahr alt, er geht gerne spazieren, läßt sich ohne Probleme das Brustgeschirr anlegen und beißt nur noch selten in die Leine, z.B. wenn er sich überfordert fühlt. Wenn er sehr aufgeregt ist, fällt ihm ab und zu nochmal ein, daß man ja auch mal an Frauchen knabbern kann, aber das wird nicht nur weniger, es wird auch sanfter. Frau Maier erkennt die Zeichen rechtzeitig und weiß, was sie im Vorfeld tun muß, so daß es gar nicht so weit kommt. Das wilde und lange Spielen wurde durch ruhige Suchspiele und Kletterübungen ersetzt. Und Pedro kommt zwar immer noch nicht abends ins Haus, aber er bleibt bis spätabends bei Herrchen im Büro und schläft dort auch.
Frau Maier heißt natürlich nicht Frau Maier und Pedro nicht Pedro, er ist auch kein Leonberger. Aber diese Geschichte hat sich – leider – genauso erst kürzlich zugetragen. Zudem höre ich in verschiedenen Variationen von allen möglichen Kunden, mit allen möglichen Rassen ähnlich qualifizierte Tipps, die sie von ähnlich gut instruierten Hundeexperten bekommen. Hier handelt es sich dann nicht nur um Tierärzte, sondern um Leute, die z.B. schon lange und seeeehr gut die jeweilige Rasse kennen, oder die regelmäßig alle Hundeexpertensendungen ansehen, oder die jahrelange Erfahrung im Hundesport, bevorzugt im Schutzdienst haben, oder solche netten Zeitgenossen, die sich einfach bemüßigt fühlen, überall ihren Senf dazu zugeben, Hauptsache jemand hört zu. Experten eben.
Vermutlich werde ich solche Geschichten noch oft hören und noch oft Gelegenheit haben, hier Erste Hilfe zu leisten. Denn der größte Schwachsinn hält sich leider am hartnäckigsten.
Ein Kommentar zu Gute Ratschläge und ihre Folgen