Nicht springen! – Das Bild in unserem Kopf

Peter und Freddy sind Brüder. Als sie 8 und 4 Jahre alt waren, kam Peter, der Ältere, eines Tages nach Hause und sah Freddy im offenen Fenster im 1. Stock stehen. Freddy, der allein zuhause war, winkte begeistert seinem großen Bruder zu und rief: „Schau mal, Peter, was ich kann!“ Er war hocherfreut, daß er es geschafft hatte, aufs Fensterbrett zu klettern und das Fenster zu öffnen. Peter blieb stehen und rief seinem kleinen Bruder in aller Ruhe zu: „Fein, Freddy, bleib stehen! Ich komm gleich zu dir!“ Ganz langsam und ruhig ging er ins Haus, die Treppe hoch, sperrte die Wohnungstür auf und näherte sich behutsam seinem kleinen Bruder, der immer noch im offenen Fenster stand. Er nahm ihn vorsichtig in die Arme und hob ihn runter. Dann brach er ohnmächtig zusammen.

Diese Geschichte hat mir ihre Mutter erzählt, und jedesmal, wenn ich sie erzähle, habe ich einen Kloß im Hals. Stellen Sie sich mal vor, Peter hätte so panisch reagiert, wie es häufig der Fall ist, wäre aufs Haus zugerannt, hätte die Arme hochgerissen und geschrien: „Nicht springen, Freddy!“  Freddy hätte vielleicht verstanden: „Springen, Freddy!“. Oder er wäre angesteckt von Peters Panik unsicher geworden und wäre ins Stolpern gekommen. Das Ergebnis wäre das Gleiche gewesen: ein zumindest schwer verletztes, vielleicht sogar totes Kind. Denn für Kinder gibt es kein „nicht“. Das ist der Grund, warum diese Art von Unfällen mit Kindern leider oft passiert. Sie hören „spring“, sehen die ausgebreiteten Arme und springen. Peter hatte von seiner Mutter, die Sozialpädagogin ist und mit Kindern arbeitet, gelernt, daß man immer sagen muß, was der andere tun soll, das ist viel leichter auszuführen, als etwas nicht zu tun. Oder wissen Sie, wie „nicht tun“ geht? Der kleine Kerl hatte im Alter von 8 Jahren genau verstanden, auf was es ankam: Ruhe bewahren und eine klare Anweisung geben, dann in aller Ruhe hingehen und den kleinen Bruder in Sicherheit bringen. Das war eine so enorme Anspannung für ihn, daß er daraufhin ohnmächtig wurde.

Das Bild im Kopf ist manchmal unser stärkstes Hindernis, aber – wie man an dieser Geschichte sehen kann – auch unser wichtigster Helfer. Bleiben wir bei Peter und Freddy. Was habe ich im Kopf, wenn ich rufe: „Nicht springen!“? Ich sehe ein springendes Kind, das auf dem Pflaster zerschellt. Alle gräßlichen Bilder, die ich je von zerschlagenen, verrenkten Gliedmaßen und Blut im Rinnstein, von verzweifelten Eltern und hilflosen Ärzten gesehen habe, jagen durch meine Vorstellung. Und ich übermittle dem Kind die Botschaft: Spring! Denn das ist das Bild, das ich im Kopf habe und das ist die Anweisung, die es bekommt. Das „Nicht“ ist dabei völlig belanglos. Ich könnte vorher auch sagen: „Apfelkuchen“ oder „hör mal“ oder was auch immer. Das Unterbewußtsein kennt kein „Nein“. Deshalb reagieren Kinder – und Hunde – auch oft so konträr auf unsere negativen Anweisungen. Denn wenn Freddy nicht springen soll, was soll er dann tun? Ganz einfach: stehenbleiben. Und zwar so lange, bis jemand kommt, der ihn in Sicherheit bringt.

Wir leben in einer Fehlerkultur. Das haben wir so verinnerlicht, daß wir lieber nach Fehlern suchen und „Nicht“-Anweisungen geben, als uns zu überlegen, was wir richtig machen, bzw. wie wir es richtig machen können. Denken Sie doch nur an die Schule. Lernen ist so etwas Wunderbares, jedes Kind freut sich zunächst, wenn es in die Schule kommt und dort etwas Neues lernen darf. Aber im Laufe der Zeit wird das fast allen ausgetrieben. Ein Diktat, in dem von 100 Wörtern 90 richtig sind, wimmelt nur so von roten Anstreichungen, weil bei 10 Wörtern etwas falsch ist. Keiner sagt einen Ton dazu, daß 90 Wörter richtig waren, nur die die mit den Fehlern zählen, egal ob man den Text noch versteht oder nicht. Eine Rechenaufgabe, die einen richtigen Weg nimmt, aber im letzten Schritt einen Fehler macht und zu einem falschen Ergebnis führt, bringt null Punkte, da eben nur das Ergebnis zählt. Ich glaube, daß es ein großer Unterschied ist, wenn ich in eine Prüfung gehe und weiß: wenn ich 90 % richtig habe, dann ist das großartig und ich konzentriere mich automatisch auf das, was ich kann. Aber wenn ich denke: bei 10% Fehlern bekomme ich xy Punkte abgezogen, dann konzentriere ich mich nur auf die Fehler, die ich dann auch prompt mache.

Erinnern Sie sich an die Lehrer, bei denen Sie schon Panik bekamen, wenn sich nur deren Augen auf Sie richteten? Am liebsten wären Sie im nächsten Mauseloch verschwunden. Wenn eins dagewesen wäre und Sie hineingepaßt hätten. Und ganz sicher waren Sie nicht in der Lage das, was Sie eigentlich sicher wußten, so zu vermitteln, daß eine gute Note herausgekommen wäre. Denn Angst macht Stress und unter Stress ist man nicht mehr in der Lage vernünftig zu denken und klaren Kopf zu bewahren, geschweige denn, Anforderungen zu bestehen. Ein Lehrer, Vorgesetzter, Trainer, Partner oder eben auch Hundebesitzer, der nur darauf achtet, was sein Zögling falsch machen kann und damit auch die Aufmerksamkeit seines Gegenübers nur darauf richtet, wie es nicht geht, produziert automatisch das Verhalten, das er nicht möchte. Was der Hund oder Mensch richtig und gut gemacht hat, fällt hinten runter und wird als selbstverständlich vorausgesetzt.

Selbst Dinge, die wir positiv darstellen möchten, werden durch das Wort „nicht“ geprägt. „Geht nicht, gibt’s nicht!“ ist so ein Spruch. Eigentlich möchte man sagen, daß alles geht, wenn man nur will und es richtig angeht. Aber in diesem kurzen Satz mit 4 (vier!!) Wörtern sind zwei davon „nicht“. Oder „Nicht vergessen…“. Wäre es nicht besser zu sagen: „denk dran…“?

Wir haben so eine Angst, etwas falsch zu machen, daß wir uns oft krampfhaft vornehmen, „jetzt“ alles richtig zu machen, z.B. wenn wir ein Kind bekommen, einen neuen Partner finden, eine neue Arbeit antreten oder uns einen Hund ins Haus holen. Womit wir wieder bei den Hunden angekommen wären. Was glauben Sie, wie oft ich von neuen Kunden höre: „Bei diesem Hund möchte ich alles richtig machen, deshalb komme ich zu Ihnen.“ Der Vorsatz ist wunderbar, aber in der Regel steckt die Angst dahinter, etwas „falsch“ zu machen. Und gleicht taucht die nächste Frage auf: was ist richtig und was ist falsch?

Ist es richtig, wenn ein Hund zieht, ist es falsch, wenn er neben Ihnen läuft? Sie haben schon richtig gelesen. Denn diese Frage kann man sehr wohl mit „ja“ beantworten. Wenn ein Hund zieht, weil Sie ständig an ihm rumgezerrt haben, dann hat er recht mit seiner Zieherei, dann ist das richtig, weil Sie ihm gesagt haben: Ziehen ist normal, ich tue das auch. Und wenn Sie ihm mit Druck und unfreundlichen Methoden beigebracht haben, ständig und immer und überall „bei Fuß“ zu gehen, dann ist das falsch, weil es weder sinnvoll noch angenehm ist und den Bedürfnissen Ihres Hundes nicht gerecht wird. Das bedeutet aber nicht, daß es falsch ist, seinem Hund ein Bei-Fuß-Kommando beizubringen, oder richtig, ihn ziehen zu lassen. Verwirrend, oder?

Gehen wir zurück zu den Bildern, die wir im Kopf haben, dann löst sich Ihre Verwirrung hoffentlich auf.

Wir lassen die zahlreichen Gründe, warum unser Bello so schauerlich zieht mal beiseite. Im Moment haben wir dazu keine Zeit, weil uns schon alles weh tut, während er uns den Weg entlang schleppt. In unserem Kopf geht es dauernd rund: jetzt zieht er schon wieder so schrecklich, mein Gott, kann er nicht endlich damit aufhören! Und schon hört Bello: jetzt zieh doch nicht so! Und was macht er? Na, logisch, er zieht weiter. Sie vermitteln ihm ja auch nichts anderes. Sie denken ständig und ausschließlich an einen ziehenden Hund, der sich schon die Seele aus dem Hals keucht und nur noch in Schräglage mit Ihnen als Schleppanker unterwegs ist. Dazu kommen Sie sich – sehr verständlich, aber leider nicht sehr hilfreich – total blöd und lächerlich vor. Sieht ja auch wirklich doof aus, wenn man sich so durch die Gegend schleifen läßt. Aber was tun?

In so einer Situation ist man in der Regel nicht in der Lage, ein harmonisches Bild im Kopf entstehen zu lassen, auf dem Sie und Bello als Dreamteam gemütlich durch die Lande schlendern. Man ist so gefangen von den unangenehmen Gefühlen, dem unerfreulichen Körpergefühl und den Schmerzen in Rücken und Schultern, daß man eigentlich alles tun würde, um hier rauszukommen. Wir hoffen jetzt mal, fast alles. Denn vieles, was als Lösung angeboten wird, ist nicht gut, für Sie nicht und erst recht nicht für Bello.

Wenn ich versuche, ein Bild im Kopf zu ändern, muß ich mir erst bewußt machen, daß ich eines im Kopf habe. Dann muß ich mir darüber klar werden, welches Bild es denn tatsächlich ist. Denn die meisten von uns sind fest davon überzeugt, daß das, was sie gerne hätten, auch das ist, was sie im Kopf haben. Manche Menschen geraten immer wieder in ähnliche Situationen. Wenn sie einen neuen Partner finden, stellt sich in kürzester Zeit heraus, daß er – oder sie – eigentlich nur eine ziemlich genaue Wiedergabe aller vorherigen Partner ist und genau die gleichen unangenehmen Eigenschaften hat. Oder sie nehmen sich fest vor, diesmal einen Hund zu holen, der gesund ist. Und erwischen prompt den einzigen aus dem Wurf, mit dem sie Dauergast beim Tierarzt sind. Oder ihre Chefs sind immer ungerecht, ihre Kollegen immer Mobber, ihre Autowerkstätten werden immer von Betrügern geleitet………. Kennen Sie so jemanden? Und wie ist das bei Ihnen? Haben Sie auch irgendwas, was sich wie ein roter und sehr unerfreulicher Faden durch Ihr Leben zieht? Ein Dauerthema, das Sie gerne endlich erledigt hätten? Zum Beispiel hätten Sie für Ihr Leben gerne endlich einen Hund, der nicht zieht? Aha, schon habe ich Sie erwischt. Was soll er tun? Genau. Er soll locker an der Leine gehen.

Haben Sie gemerkt, wie schnell das geht? Wie einfach Sie Ihr Bild im Kopf finden können? Das tatsächlich Ihr Handeln bestimmt, nicht das, das Sie beim kontrollierten Nachdenken produzieren und das man am ehesten noch als Wunschbild bezeichnen kann.

Wir halten also fest: es gibt zwei Bilder. Eines, das Sie bestimmt, und eines, von dem Sie träumen. Und träumen ist gut, sehr gut sogar. Denn im Traum sehen wir oft, was wir wirklich möchten. Träumen Sie ruhig von einem freudig laufenden Bello, der ganz locker mit Ihnen mitläuft, verbunden durch eine entspannte Leine. Ist das nicht wunderbar?

Lehnen Sie sich zurück, genießen dieses angenehme Gefühl im Rücken, schauen Sie Bello an, wie gut es ihm geht und wie er sie anlacht. Einfach herrlich. Die Sonne scheint und der Himmel lacht, Ihr Nachbar nickt Ihnen freundlich zu, während Sie entspannt mit Bello die Straße entlang gehen. Frau Maier von nebenan winkt Ihnen zu, Herr Huber ruft über den Zaun: „Ist das nicht ein herrlicher Tag heute?“ und Sie bleiben stehen, um mit ihm ein Schwätzchen zu halten. Bello begrüßt Herrn Hubers Susi, die sich hinterm Zaun freut, daß er vorbeikommt. Dann gehen Sie weiter bis zur Wiese. Und an der Wiese leinen Sie ihn ab und machen einen wunderbaren Spaziergang. Mal läuft er ein Stück an der Leine, mal eine Zeitlang frei. Sie spielen mit ihm und haben eine herrliche Zeit. Ganz entspannt kommen Sie beide nach Hause und der Tag ist einfach schön.

Jetzt werden Sie wieder wach, merken, daß Sie geträumt haben und seufzen: schön wär’s. Aber glauben Sie mir, wenn Sie jetzt diesen Traum ganz intensiv empfunden haben, dann haben Sie den ersten Schritt gemacht, um ein neues Bild in den Kopf zu bekommen, das das alte ersetzen kann.

Wenn Sie sich darüber klar geworden sind, daß zwei Bilder – oder auch mehr – zu einer bestimmten Situation in Ihrem Kopf aktiv sind, dann müssen Sie sich überlegen, wo sie herkommen und welches tatsächlich das ist, was Ihr Leben bestimmen soll. Vielleicht ist mal das eine, mal das andere die richtige Lösung.

Sie können sich jetzt vornehmen, immer nur an einen locker leinenführigen Fiffi zu denken. Das geht dann wie mit den guten Vorsätzen an Neujahr. Eine Zeitlang klappt das wohl, aber Ende Januar ist meistens wieder alles beim alten. So einfach ist es eben nicht. Was dagegen möglich ist: Sie fangen an, ein bißchen aufmerksamer sich selbst zuzuhören. Denn wir führen oft Selbstgespräche im Kopf, die das ausdrücken, was wir an Bildern so in uns haben. Und jedesmal, wenn Sie eine „Nicht“-Anweisung geben, egal wem, dann überlegen Sie sich die „So-geht’s“-Alternative.

Hunde reagieren auf unsere Bilder im Kopf, ob wir das glauben oder nicht. Also können Sie nichts kaputt und viel richtig machen, wenn Sie sich zu dieser „So-geht’s“-Alternative auch das entsprechende Bild vorstellen, z.B. Bello springt Sie bei der Begrüßung nicht an, sondern bleibt mit allen vier Füßen am Boden. Oder wenn Sie ihn rufen, sehen Sie sofort einen freudig auf Sie zulaufenden Bello. Wenn’s nicht klappt, geht die Welt nicht unter, wenn’s klappte haben Sie und Ihre Pelznase einen Riesenerfolg.

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