Phänomen oder Problem: die gute – oder nicht so gute – Leinenführigkeit?

von Ute Rott
Forsthaus Metzelthin

Vielleicht sollte ich mal eine Strichliste führen und eine interne Untersuchung über folgendes Thema durchziehen: wieviele Menschen kommen mit ihren Hunden zu mir, weil ihre Hunde nicht ordentlich an der Leine laufen? Ich schätze ca. die Hälfte aller Trainings laufen zur Leinenführigkeit. Dabei kann ich nicht mal behaupten, daß das ausschließlich oder wenigstens überwiegend Hundehalter sind, die nicht bei mir das Welpen- oder Junghundepaket absolviert haben. Die nicht in einer meiner Gruppe sind, sondern in irgendeiner anderen und natürlich grottenschlechten Hundeschule ihren Hund versaut gekriegt haben.

Um das mal gleich vorweg zu nehmen: ja, es gibt grottenschlechte Hundschulen, aber die Anzahl derer, die gut und ordentlich arbeitet, nimmt deutlich zu und ich denke sogar, daß sie mittlerweile eher in der Mehrzahl sind. Und die Kollegen, die ich kenne, jammern alle über das gleiche Problem: auch Hunde aus ihrem Training laufen sehr oft nicht gut an der Leine. Die Frage, die sich mir da stellt, lautet: ist das jetzt ein einfaches, mechanisches Problem, das mit den entscheidenen Tricks und Methoden geändert werden kann oder handelt es sich nicht viel eher um ein Phänomen unserer Zeit, das eben nur Hundehalter betrifft? Ich vermute nämlich letzteres.

Auch wenn ich das schon oft und oft gesagt und geschrieben habe, wiederhole ich es notfalls so lange, bis mir die Finger wund werden oder meine Zunge in Fransen hängt: kein einziger Hund besitzt so etwas wie ein Leinenführigkeitsgen, jeder einzelne muß es wieder neu lernen. Jeder. Und beibringen muß ihm das sein Mensch, denn für Hunde ist es komplett und total unnatürlich und widersinnig, daß man sich gegenseitig an einem Strick festbindet. Hunde tun sowas nicht. Manche Hunde können das einfach, sie verstehen sehr schnell, wann die Leine zu Ende ist und daß es wesentlich angenehmer ist, wenn sie locker durchhängt. Das ist eine wunderbare Sache, aber keine einziger Hundemensch darf sich darauf verlassen, daß das bei seinem Hund so ist.

Fragt man jetzt in die Runde, welche Gründe es gibt, warum Hunde an der Leine ziehen und was man tun kann, um das zu ändern, dann bekommt viele, viele Antworten, die sicher meistens richtig sind, nur leider den Kern nicht treffen. Um das zu verdeutlichen, hier ein paar Beispiele aus der Praxis. Ich bitte um Verständnis, daß in diesen Beispielen nicht die richtigen Namen genannt werden, ebenso schildere ich auch nicht alle Details aus der Geschichte der Hunde und ihrer Menschen, sondern nur die, die wichtig sind für das Verständnis der Problematik. Ich möchte hier niemanden bloßstellen oder lächerlich machen, sondern allen Betroffenen zeigen, daß sie nicht allein sind mit ihrem Problem, daß sie sich nicht schämen müssen, sondern daß man oft mit wenigen Mitteln eine deutliche Besserung erreicht.

1. Klara ist eine ca. 2 Jahre alte Hündin einer großen Rasse, die „eigentlich“ gut an der Leine läuft, nur in bestimmten Situationen nicht. Sieht sie jemanden von vorne kommen, egal ob Mensch oder Hund, kommt sie vom Freiland in Richtung Bebauung oder ist irgendwo in der Nähe Krach, z.B. LKW-Verkehr, dann fängt sie an in die Leine zu beißen und zu ziehen wie nix gutes.  Klara lebt mit noch 2 Hunden ihrer Rasse zusammen. Beide gehen gut an der Leine und haben damit überhaupt kein Problem. Was ist die Ursache? Klara ist die jüngste von den dreien, der Rüde ist ein Jahr älter, die Hündin ist schon über 10 Jahre alt. Die alte Hündin ist sehr souverän, hatte schon selber Welpen und die Besitzer dachten, vielleicht, daß Klara von der alten Hündin einiges übernehmen würde. Was Klara aber beim Züchter gelernt hat, ist nicht bekannt und es ist auch nicht bekannt, wie die Elterntiere waren.  Vielleicht war die ältere Hündin ja der Meinung, daß sie für die Kinder von fremden Hunden nicht zuständig ist? Könnte man nachvollziehen, nur können wir sie nicht fragen. Der Rüde ist selber sehr unsicher, weicht aber allem, was er als Problem ansieht, einfach großräumig aus.  Klaras Menschen sind sehr nett und lieben ihre Hunde sehr, aber sie haben leider nicht erkannt, daß Klara ein Hund ist, der Halt und Sicherheit braucht und beides bekommt sie eben nicht von den anderen Hunden.
Klaras Menschen haben noch andere Probleme mit ihr, die hier nicht erläutert werden sollen. Nervig für sie ist u.a. daß Klara eben manchmal an der Leine zieht. Wenn man jetzt in Richtung Dorf mit Klara geht, dann passiert manchmal etwas ganz merkwürdiges: sie zieht nicht unbedingt hin, sondern eher weg. Sowie man stehen bleibt, bleibt Klara auch stehen und beobachtet voller Mißtrauen das Geschehen auf der Metzelhiner Dorfstraße. Soviel sei vertraten: besonders viel passiert da eher nicht. Möchte man mit Klara weitergehen, sträubt sie sich mit ihren ganzen fast 40 Kilo. Man bekommt sie also nur weiter, indem man sie mit Gewalt weiterzieht.
Dazu kommt, daß alle anderen Hunde der Familie immer nett und unkompliziert waren, jetzt hat man plötzlich einen nicht so einfachen Hund und das macht doch einen schlechten Eindruck.
Die Ursache für die schlechte Leinenführigkeit ist hier sehr komplex:
– leider zu wenig Verständnis für die Sitatution der jungen Hündin von Anfang an
– Mensch setzt sich durch, egal um was es geht, denn Klara wurde dann eben immer durch die Dörfer gezerrt
– viel zu wenig Kontrollmöglichkeiten für Klara und viel zu wenig Gelegenheit, selber langsam und abgesichert eine neue Umgebung zu erkunden
– Die Angst vor der Meinung anderer Menschen, daß man seinen eigenen Hund nicht im Griff hat.
Das sind nur vier Ursachen, es gibt noch mehr, aber allein diese vier reichen aus, um einem Hund das Laufen an der Leine unter bestimmten Umständen unmöglich zu machen. Denn, ich erinnere daran: überwiegend läuft sie wunderbar locker an der Leine.

2. Frau Müller hat zwei Schäferhündinnen, Mutter (10 Jahre) und Tochter (5 Jahre). Beides sind sehr nette und lustige Mädchen, die am Leben mit ihrem Frauchen offensichtlich viel Spaß haben. Frau Müller steht im Leben als Selbständige seit Jahrzehnten erfolgreich ihre Frau, aber privat wirkt sie wie ein verschüchtertes, kleines Mädchen.  Trotzdem ist sie felsenfest davon überzeugt, daß sie hier die „Chefin“ ist, einfach weil sie ein Mensch ist und damit autoamtisch allen Hunden überlegen. Ihre Mädels sehen das etwas anders. Es kommt noch dazu, daß Frau Müller immer schrecklich Angst hat, sich zu blamieren. Wenn ihre Mädels nämlich beim Anblick von Hunden  in die Luft gehen und an der Leine zerren wie verrückt, dann schämt sie sich und hat schrecklich Panik, daß die anderen Leute sie für dumm und unfähig halten und auch gar nicht verstehen, daß ihre Mädels eigentlich total nett sind. Also hat Frau Müller auf Rat eines „Hundeexperten“ einer der beiden ein Stachelhalsband umgelegt, die andere hat einen „einfachen“ Würger mit Stopp, die Leinen sind ganz kurz, sonst kriegt sie sie ja nicht gehalten.  Zudem werden viele Kommandos permanent geübt: fuß und bleib und sitz und platz, eben alles was man unumstößlich braucht, um Hunde in den Griff zu bekommen.
Und dann passiert auch noch folgendes: Frau Müller geht mit ihren Hunden vor dem Training noch eine kleine Runde, sieht mich am Tor warten und aus purer Höflichkeit – und vielleicht auch aus Angst, ich könnte was schlechtes von ihr denken – fängt sie an zu rennen. Dabei zerrt sie natürlich an den Leinen und damit an Stachel und Würger und schon zerren beide Hunde wie blöd und gehen schließlich aufeinander los.
Beide Hündinnen sind also in vielerlei Hinsicht nicht wirklich überzeugt davon, daß ihr Frauchen über herrvoragende Führungsqualitäten verfügt. Daran ändern auch zahlreiche und sinnlose Kommandos nichts.
Ursachen in diesem Fall:
– arbeiten mit Leinenruck, endlosen Kommandos und Folterwerkzeugen auf Rat eines „Experten“, also richtig klassisch
– eine ziemlich verdrehte Vorstellung davon, wie ein Mensch-Hund-Verhältnis aussieht
– die feste Überzeugung, daß die Hunde auf ihren Menschen hören müssen, einfach weil er ein Mensch ist, auch wenn er den Hunden keine vernüftige Lösungen bieten kann
– die persönliche Angst der Hundehalterin, vor anderen mit ihren Hunden schlecht da zu stehen.

Beide Fälle haben einen Punkt gemeinsam und diesen Punkt finde ich bei so gut wie allen Menschen, die mit dem Problem „Hund zieht an der Leine“ zu mir kommen. Dieser Punkt heißt: die öffentliche Meinung.

Hundehalter sind heute vielen Forderungen ausgesetzt, die automatisch Probleme bei den Hunden erzeugen, wenn man sich darauf einläßt. Eine davon heißt: wenn dein Hund an der Leine zieht, bist du zu blöd ihm zu sagen, wo’s lang geht. Die Ursachen interessieren diese anonyme öffentliche Meinung nicht, warum auch, es handelt sich ja um eine Meinung und nicht um eine oder mehrere Personen.  Wie entsteht so eine Meinung und damit der Druck, der uns und unsere Hunde verrückt macht? Da sind erstmal die Medien, also die zahlreichen Hundezeitschriften, die uns verklickern, wies richtig geht, dann die großartigen Fernsehsendungen, in denen besonders schnelle, spektakuläre und medienwirksame Trainings gezeigt werden, die einfach ganz toll wirken. Wie’s nach Aufzeichnung der Sendung aussieht, interessiert niemanden. Aber dann gibt es noch den eigenen Kopf, der sich alles mögliche aneignet, fremde Forderungen übernimmt und auf das eigene Leben und den eigenen Hund überträgt. Da wird dann beispielsweise als „Ziehen an der Leine“ definiert, daß mein Hund mal kurz irgenwo schnuppern möchte. Und weil die Leine zu kruz ist, zieht er eben hin. Zu kurz kann auch bedeuten, daß zum Schnuppern an der 3-Meter-Leine eben noch ein kleiner Schritt von mir fehlt und schon ist Bello an der interessanten Stelle. Nur schaut blöderweise gerade meine Nachbarin zu und die findet sowieso, daß ich das total doof mit meinem Hund mache, weil Martin Rütter oder Maja Nowak oder wer auch immer sagen doch……………
Und schon ist die Falle zugeschnappt.

Neben der öffentlichen Meinung gibt es noch einen Punkt, den viele gemeinsam haben: Zeitmanagement und zwar effektives. Das bedeutet dann, daß man jede Minute durchplant, die einem zur Verfügung steht, auch die Minuten mit dem Hund. Da wird dann aber auch alles ganz klar durchorganisiert, z.B. dauert der Spaziergang 75 Minuten, die muß man exakt einhalten und da muß dann auch eine ordentliche Runde drin sein und da muß auch was passieren, Gehorsamsübungen und Spiel und Spaß und Stadttraining und Sozialkontakte, schließlich hat man nicht mehr Zeit und der Hund muß auch zu seinem Recht kommen……………. So hört sich das dann an, wenn ich mit Zeitmanagementfans über den Tagesablauf ihres Hundes rede.

Hunde haben aber 24 Stunden Zeit, jeden Tag, und wir eigentlich auch. Nur lassen wir uns schrecklich gerne hetzen, von einem Termin zum anderen, von einem Event zum anderen, vom Hundespaziergang zum Kundentermin zum Museumsbesuch ins Konzert zum Essen mit Freunden zum Hundespaziergang…………… und dann wundern wir uns, wenn der Hund nur noch weg will.

Liebe Hundemenschen mit zerrenden Hunden, nehmt euch bitte zu Herzen, daß ihr und sonst niemand die Ursache seit, warum euer Hund dauerhaft zieht und so gar nicht leinenführig werden will. Dann merkt euch bitte: es gibt Momente im Leben jeden Hundes, da ist es vollkommen normal und verständlich, daß er zieht, z.B. wenn er Angst hat und weg will, z.B. wenn ihr ihn nervt und er nur noch Abstand zwischen sich und euch bringen möchte, z.B. da vorne sein Kumpel läuft und er muß einfach „hallo“ sagen. Wenn Frau Müller zu mir hinläuft, damit das Training beginnen kann und dabei an ihren Hunden rumzerrt, habt ihr doch auch Verständnis?

Also hier ein paar kleine, einfache Regeln, mit denen man versuchen kann, seinem Hund ein anständiges Laufen an der Leine zu ermöglichen:
1. Jeder Hund zieht manchmal  und das ist nicht schlimm.
2. Ich als Mensch habe nicht alle Rechte über meinen Hund, sondern muß Problemverhalten als das erkennen, was es ist: mein Hund hat ein Problem und ich muß ihm helfen, dieses Problem zu lösen, und zwar in seinem Sinn.
3. Es hat noch niemandem geschadet, das Tempo rauszunehmen. Der Tag hat nicht mehr Stunden, Minuten, Sekunden, die Woche nicht mehr Tage, der Monat nicht mehr Wochen und das Jahr nicht mehr Monate, wenn wir durch die Gegend sausen wie angestochen. Wer langsam geht, kommt auch zum Ziel und hat deutlich mehr vom Weg.

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